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Charles Sealsfield, Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken (1841)

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Einstieg

Ich höre gerade heruntergeladene Hörbücher auf, bin schon beim Buchstaben S und zwar bei dieser Aufnahme – eine der wohl bekannteren Passagen aus einem mir bislang völlig unbekannten Wildwest-Buch von einem Autor, von dem ich noch nie gehört hatte: Charles Sealsfield, ein amerikanischer Staatsbürger, geboren 1793 als Carl Anton Postl im heutigen Süd-Tschechien, gestorben 1864 in der Schweiz. “1823 flüchtete Postl aus ungeklärten Gründen – er wurde sogar per Steckbrief gesucht – über Wien und Stuttgart in die USA, wo er sich eine neue Identität aufbaute”“” (Wikipedia) – drumrum skandalöse Veröffentlichungen unter diversen Pseudonymen, vergebliche Versuche, Geheimagent zu werden, durchaus turbulent.

Das Buch selber überraschte mich. So unbekannt ist es nicht, vom ersten Teil gibt es eine Reclamausgabe. 1841 erschienen, scheint es Karl May vorwegzunehmen. Ich hatte naiv geglaubt, die literarische Erschließung des Wilden Westens hätte erst später begonnen, hüben wie drüben – ja, The Last of the Mohicans von James Fenimore Cooper erschien bereits 1826, aber dann fallen mir keine Wildwestgeschichten bis Bret Harte ein – nicht bei Poe, nicht bei Hawthorne, nicht bei Twaine. Deutsche Werke vor und nach Karl May kenne ich eigentlich nicht.

Sealsfield war wohl ein großer Freund der Südstaatenkultur und auch der Sklaverei dort. Es ist auch immer wieder von „Pflanzungen“ dort die Rede, plantations, ein Begriff, der mich bei Otto Ehrhart (Bembes-Blogeintrag) schon gewundert hatte, weil er bei Karl May nie auftaucht – aber der schreibt halt schon vom Niedergang des Westens, und sicher nach dem amerikanischen Bürgerkrieg; auch eher im Westen als im Süden. Bei Sealsfield, also zumindest bei diesem einen Roman, will Amerika noch erobert, ach was: unterworfen, gezähmt, bezwungen werden. So wird am Anfang beschrieben, wie Mustangs gefangen und schließlich gezähmt werden:

Ist das Tier gefangen, so wird es auf eine nicht minder brutale Weise gezähmt. Es werden ihm die Augen verbunden, das furchtbare, pfundschwere Gebiß in den Mund gelegt, und dann wird es vom Reiter – die nicht minder furchtbaren, sechs Zoll langen Sporen an den Füßen – bestiegen und zum stärksten Galopp angetrieben. Versucht es sich zu bäumen, so ist ein einziger, und zwar gar nicht starker Riß dieses Martergebisses hinreichend, dem Tiere den Mund in Fetzen zu zerreißen, das Blut in Strömen fließen zu machen. Ich habe mit diesem barbarischen Gebisse Zähne wie Zündhölzer zerbrechen gesehen. Das Tier wimmert, stöhnt vor Angst und Schmerzen, und so wimmernd, stöhnend wird es ein oder mehrere Male auf das schärfste geritten, bis es auf dem Punkte ist, zusammenzubrechen. Dann erst wird ihm eine Viertelstunde Zeit zum Ausschnaufen gegeben, worauf man es wieder dieselbe Strecke zurücksprengt. Sinkt oder bricht es während dem Ritte zusammen, so wird es als untauglich fortgejagt oder niedergestoßen, im entgegengesetzten Falle aber mit einem glühenden Eisen gezeichnet und dann auf die Prärie entlassen. Von nun an hat das Einfangen keine besonderen Schwierigkeiten mehr; die Wildheit des Pferdes ist gänzlich gebrochen, aber dafür eine Heimtücke, eine Bosheit eingekehrt, von der man sich unmöglich eine Vorstellung machen kann.

(Allerdings wird die Natur am Anfang anders beschrieben: “Aber wir hatten auch gewissermaßen die Vorhalle des Tempels des Herrn betreten, denn einem wahren Tempel glich die grandiose Natur um uns herum. Alles so still, feierlich und majestätisch! Wald und Flur, Wiesen und Gräser, so rein, so frisch, gerade als wären sie soeben aus der Hand des ewigen Werkmeisters hervorgegangen. Keine Spur der sündigen Menschenhand, die unbefleckte, reine Gotteswelt!”)

Es folgt jetzt der Anfang des Romans, die Rahmenhandlung, damit sich ein Bild davon machen kann, wer das mag. Ist es wirklich nur das Wildwest-Setting, das den Anfang so viel jünger auf mich wirken lässt? Oder ist trivialere Literatur zeitlos? Danach weiter Kommentar zu Inhalt und Aufbau und anderen Themen.

Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken (Anfang)

Über den Madeiras und Sherries und Chambertins und Lafittes, und den gewonnenen und verlorenen Wetten und Cottonpreisen und Sklavenpreisen und Banksystemen und Subtreasurysystemen begannen denn doch allmählich die Köpfe heiß zu werden, – noch immer aber herrschte ein heiter zuvorkommender, gentlemanischer Ton. Da ließ sich, gerade wie der bardolphsnasige Mayordomo eine frische Ladung Bouteillen aufstellte, vom untern Ende der Tafel herauf eine entschiedene Stimme hören:

»Wir wollen nicht.«

»Ihr wollt nicht?« donnerte es heftig, beinahe rau, entgegen.

»Wir wollen nicht«, war die feste Antwort.

Die zwei Stimmen wirkten wie die erste Windsbraut vor dem hereinbrechenden Sturme. Alle schauten in der Richtung, wo der Stoß herkam. Es war jedoch nichts zu sehen, die dichten Rauchwolken der Havannas verhüllten Streiter und Zecher.

»Wer ist der Mann?« wisperte es am obern Ende der Tafel.

»Darf ich so frei sein zu fragen, Gentlemen, um was es sich handelt?« fragte ein zweiter.

»Gewiss,« versetzte die entschiedene Stimme, »mein achtbarer Nachbar ist der Ansicht, Texas müsse sich an den Süden anschließen.«

»Das muss es auch«, fielen mehrere ein.

»Dass ich nicht wüsste«, entgegnete im ironischen Tone der Disunionist.

Die Kühnheit, in diesem Tone zu vierundzwanzig oder mehr Grandees, die zusammen leicht ein Heer von fünf- bis sechstausend rüstigen Negern ins – Cottonfeld stellen konnten, zu sprechen, schien nicht geringes Befremden zu erregen; die Frage, wer ist der Mann, ließ sich, und zwar sehr missbilligend, wiederholt vom obern Ende der Tafel herab hören.

»Und warum soll es nicht?« fragte wieder eine Stimme.

»Ich gebe die Frage zurück, Sir! Warum soll es?«

»Es ist ein integrierender Teil Louisianas.«

»Um Vergebung! Seht den Bericht der Kommissäre bei Abschluss des Ankaufes Louisianas und der Zession Floridas an, und ihr werdet finden, dass Frankreich nie in den Sinn kam, den Rio del Norte anzusprechen, und dass Spanien, bloß um vor euch Ruhe zu haben, eure Ansprüche durch Florida befriedigte. Ihr seid in jeder Hinsicht vollkommen zufriedengestellt.«

»Er ist kein Bürger«, murmelten wieder die einen.

»Wer ist er?« die andern.

»Ein kecker Bursche auf alle Fälle«, die dritten.

»Und wer«, schrie wieder die heftige Stimme, »und wer – wer hat Texas bevölkert? Wem hat es seine Unabhängigkeit zu verdanken als uns, den südlichen Staaten, seinen Nachbarn?«

»Ah, das ist eine andere Frage, Oberst Oakley, aber ich glaube, Nachbarschaft und Konvenienz entscheiden hier doch nicht allein.«

»Und was entscheidet, General Burnslow?« fielen nun ein Dutzend Stimmen ein, »wer soll entscheiden? Wer? Der Norden? Sollen wir uns vom Norden vorschreiben lassen?«

»Vom alten Weibe Adams?« schrien die einen.

»Oder dem langweiligen Webster?«

»Oder dem pedantisch schulmeisterlichen Everett?«

»Weder von dem einen noch dem andern, sondern vom südländischen Gerechtigkeitssinne, der da sagt: Wir haben kein Recht auf Texas!« sprach der General.

»Ihr seid auf einmal schrecklich gerecht, General Burnslow«, lachten mehrere.

»Trotz dem alten Adams«, fielen andere ein.

»Und ihr ungerecht«, replizierte der General.

»Trotz dem kleinen fliegenden Holländer«, fiel wieder lachend einer seiner Nachbarn ein.

Dieser letztere Hieb, unserer illustren Exzellenz im Weißen Hause dargebracht, fand so allgemeinen Anklang, dass Unionisten und Nicht-Unionisten in ein lautes Gelächter ausbrachen.

In einem viel gemäßigteren Tone rief wieder eine Stimme: »Aber was wollt ihr denn eigentlich mit Texas, Gentlemen? Euch euren Cottonmarkt ganz verderben? Oder glaubt ihr, nach Texas ebensoleicht als nach Jackson1 oder dem Indian Purchase2 hinauf zu siedeln? Ich für meinen Teil gäbe nicht viel darum, wenn das ganze Texas im Pfefferland wäre – verdirbt uns nur den Markt.«

»Wahr, wahr!« bekräftigten mehrere.

»Oder«, nahm ein anderer das Wort, »wollt ihr euch eine neue Rotte von Exilierten, Spielern, Mördern und heillosem Gesindel auf den Hals laden, nachdem ihr kaum mit der alten fertig geworden? Wieder neue Vixburgh-Auftritte3 haben?«

»Hist, hist, Oberst Cracker!« mahnten mehrere.

Der Oberst hörte jedoch nicht.

»Käme uns das gerade recht – brauchten das Völkchen, ist ja nichts als Gesindel.«

»Hist, hist!« warnte es abermals, und dann ließ sich ein missbilligendes Gemurmel hören, worauf eine etwas unheimliche Stille eintrat.

Diese Stille wurde auf einmal durch die sehr artig, aber auch sehr bestimmt und fest ausgesprochenen Worte unterbrochen:

»Oberst Cracker, wollt Ihr so gut sein, Eure Ausdrücke, die Ihr in Verbindung mit Texas zu bringen beliebt, zu qualifizieren?«

Jetzt wurde die ganze Gesellschaft sehr ernst, die Zigarren verschwanden, und beim Lichte der achtzehn Wachskerzen, die auf den silbernen Armleuchtern brannten, wurde ein junger Mann sichtbar, der langsam vor den letzten Sprecher getreten.

Der erste Anblick verriet den Gentleman. Nicht groß, nicht klein, hatten seine Formen jenes Gefällige, Gedrungene, das den Mann verrät, der seine Gemüts- sowohl als körperlichen Bewegungen vollkommen zu beherrschen weiß.

Unwillkürlich richtete sich der lässig im Fauteuil hingestreckte Oberst Cracker auf, den Sprecher vom Kopf zu den Füßen messend.

»Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«

»Oberst Morse von Texas.«

»Oberst Morse von Texas?« riefen ein Dutzend Stimmen – »Oberst Morse von Texas?«

»Oberst Morse von Texas?« wiederholte, langsam sich erhebend, Oberst Cracker.

»Derselbe, der zuerst bei Fort Velasco?« rief der General.

»Und dann bei San Antonio?« Oberst Oakley.

»Und dann in der letzten Entscheidungsschlacht?«

»Derselbe«, versetzte der junge Mann.

»Ah, das ist etwas ganz anderes«, lachte nun Oberst Cracker. »Mit Vergnügen qualifiziere ich zu Euren Gunsten, Oberst Morse, Ihr seid ein Gentleman, ein geborner Gentleman.«

»Danke«, versetzte dieser trocken, »doch muss ich Euch bitten, Eure Güte auch auf die hundertundzwölf, die bei Fort Velasco, sowie auf die zweihundert, die in der Affäre von San Antonio, und auf die fünfhundert, die vor dem Fort Goliad, sowie auf die fünfhundertundfünfzig, die in der letzten Entscheidungsschlacht gefochten, auszudehnen, mit einem Worte, zu ihren Gunsten eine Ausnahme zu machen.«

»Auch das«, sprach, sich die Lippen beißend, der Oberst.

»Jetzt sind wir zufrieden«, versetzte lächelnd der Texassche Oberst, »und als Gegenkompliment will ich Euch das Vergnügen gewähren, Euch zu gestehen, ja auf Ehre zu versichern, dass wir wirklich viel Gesindel in Texas haben.«

»Bravo, bravo! Oberst!« riefen alle.

»Gesindel in Hülle und Fülle«, versicherte der Oberst.

»Aber wisst Ihr, Oberst«, nahm lachend Oberst Oakley das Wort, »dass Ihr für einen Texaner da mehr zugebt, als meines Erachtens nötig ist, gar zu –«

»Aufrichtig seid, wollt Ihr sagen, Oberst Oakley«, fiel der junge Mann ein, »und aufrichtig sage ich Euch, dass wir Gesindel in Hülle und Fülle haben, Abenteurer aller Art, Exilierte, Spieler, Mörder, und doch nicht zu viele.«

»Den Teufel auch!« lachten wieder alle.

»Nicht zu viele, versichere Euch auf Ehre! Und dass uns dieses Gesindel sehr gut zustatten kam, vielleicht besser zustatten kam, als uns Eure ruhigen, friedlichen, respektablen Bürger zustatten gekommen wären.«

»Alle Teufel!« lachten wieder alle.

»Eure Worte in Ehren, Oberst Morse«, sprach Oakley, »aber Ihr gefallt Euch, wenn nicht in Paradoxen, doch in Rätseln.«

»Wirklich in Rätseln«, fiel der General in einem Tone ein, der offenbar den Wunsch verriet, der Unterhaltung eine weniger pikante oder, was hier dasselbe war, gefährliche Wendung zu geben. »Aufrichtig gesagt«, fuhr er fort, »sollten wir auf unsern lieben Gastgeber ein bisschen ungehalten sein, dass er uns einen so werten Besuch nicht aufgeführt, aber unser Freund, Kapitän Murky, ist überhaupt so schweigsam.«

»Ich kam, als Ihr bereits bei der Tafel saßet, General, und dies –«

»Entschuldigt hinlänglich«, fiel der General ein. »Aber wie kamt Ihr, der Sohn einer unserer besten Maryland-Familien, nach Texas? Ich hörte etwas von einem Morse, aber erst vor kurzer Zeit wurde mir die Gewissheit. – Wie kamt Ihr nach Texas? Sollte doch glauben, der Sohn Judge Morses dürfte auch in den Staaten –«

»Ein Plätzchen gefunden haben, um da seinen Herd aufzuschlagen, nicht wahr, General?«

»So sollte ich«, versetzte dieser.

»Ja, wie kamet Ihr nach Texas, Oberst?« riefen alle. Die Frage war, die Wahrheit zu gestehen, eine für Texas nicht sehr schmeichelhafte, aber sie war in einem so freundlich teilnehmenden Tone, so ganz ohne alle second thougts gestellt, die Fragenden, Männer von so bedeutendem Gewichte – der Oberst, nachdem er den ihm von dem Mayordomo gestellten Sessel genommen, nippte mit einer Rundverbeugung an dem frisch gefüllten Glase:

»Wie ich nach Texas kam?« wiederholte er ernster.

»Ja, wie kamet Ihr nach Texas, Oberst?«

Fußnoten

1 Der Sitz der Regierung des Staates Mississippi.

2 Der nördlich von Natchez gelegene, bekanntlich noch nicht lange den Indianern abgekaufte Teil des Staates Mississippi.

3 Anspielung auf die Lynch-Exekution, die vor einigen Jahren da stattfand.

Aufbau und Inhalt (mit Spoilern)

Das Standardwerk Daten deutscher Dichtung, seit 2009 nicht mehr verlegt, als plötzlich allen die Nazi-Vergangenheit der Autoren auffiel, von der man doch als Germanist schon lange wusste, schreibt über Das Kajütenbuch (und zwar in einem Tonfall, der niemanden überraschen dürfte):

Stärke in der Wiedergabe des Atmosphärischen, in der Charakterzeichnung, im Sprechstil der Personen; Anglizismen. Die Fiktion von Realität durch Quellenangaben, Augenzeugenberichte, Detailschilderung erreicht. Für die vorrealistische Erz. typische Formverwilderung: Mischung von Anekdotischem, Novellistischem, Romanhaftem; die Verteilung auf mehrere Erzähler im letzten Drittel zugunsten der Rahmenerz. aufgegeben, die in eine triviale Liebesgesch. mündet.

Herbert und Elisabeth Frenzel, Daten deutscher Dichtung

Das Buch erschien an der Schwelle zum Realismus, nichts Romantisches ist an ihm (aber vielleicht Neo-Romantik?), die Naturbeschreibungen und Exkurse sind noch weit ausführlicher als bei Karl May. Formverwilderung, nun ja. Tatsächlich schätze ich die sehr.

Es beginnt mit der Rahmenhandlung oben. Eine Gesellschaft reicher Sklavenhalter-Plantagenbesitzer und anderer Honoratioren sitzt unweit der Stadt Natchez, Mississippi nach dem Essen zusammen und unterhält sich. Der Ort des Treffens ist, wie sich erst später herausstellt, die Kajüte – so nennt der Besitzer, Kapitän Murky, sein Anwesen. Auch von Murky erfahren wir erst später im Buch, er ist selbst gerade nicht anwesend. Das Thema des Gesprächs am Anfang ist der junge und unabhängige Staat Texas: Soll er sich den Vereinigten Staaten von Amerika anschließen oder nicht? Ein Gesprächspartner ist dagegen, und zwar einer, der allen anderen unbekannt ist – ein spät zu der Gesellschaft gestoßener Gast. Als Oberst Oakley Texaner als Gesindel bezeichnet, kommt es fast zum Streit, doch nachdem der Fremde sich vorstellt, lenkt der Oberst etwas zähneknirschend ein: Der Fremde ist Oberst Morse – ein guter Südstaaten-Sohn aus Maryland, den anderen dem Ruf nach bekannt, auch weil er sich in mehreren und entscheidenen Schlachten im texanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Mexiko hervorgetan hat. Die anderen wollen wissen, wie es Morse von Maryland ins wilde Texas verschlagen hat, und seine Antwort, die in wenigen Sätzen zu geben wäre, macht die gesamte erste Hälfte des Romans aus.

Die Prairie am Jacinto

Morse hat Landanteile in Texas erworben und reist deshalb dorthin. Land kriegt er zwar nicht, wird aber in den Unabhängigkeitskrieg gegen Mexiko gezogen und macht in der Armee Karriere, nimmt insbesondere erfolgreich an der Schlacht von San Jacinto teil (1835), der letzten Schlacht im Unabhängigkeitskrieg, mit dem sich Texas von Mexiko löst. Hintergrund: Mexiko wirbt seit der Unabhängigkeit von Spanien (1821) mit attraktiven Angeboten US-Amerikaner an, die mexikanische Provinz Tejas/Texas zu besiedeln. Die sind aber bald unzufrieden, zugesicherte Rechte werden ihnen vorenthalten, ein Politikwechsel in Mexiko, all das führt zum Ausruf der Republik Texas, in der Hoffnung, dass die USA beistehen werden. Das war die Sache mit der Belagerung der Alamo und so.

Im ersten Drittel dieser Binnenerzählung verirrt sich der Erzähler, der spätere Oberst Morse, in der Prärie und stirbt fast, wird aber von einem ominösen Bob gerettet und in eine Räuberhöhle gebracht. Das ist gut erzählt, viel Liebe zum Detail. Bob wird geradezu von Furien verfolgt; eh schon ein rauer Geselle, hat er vor kurzem einen Mord begangen und sucht jetzt Bestrafung. Der Bürgermeister (Alkalde, Squire) sichert sie ihm zu, er wird dann aber doch nicht hingerichtet, weil der Bürgermeister findet, der könne als Soldat für Texas sinnvoller sein Leben geben.

Dann folgen einige langatmige Kapitel, in denen der Bürgermeister seine Politiktheorie darlegt. Kurz: Zivilisation ist schön und gut, wenn erst einmal alles zivilisiert ist; aber bis dahin (lies: solange man noch unerreichte Ziele hat) regiert der Stärkere. Großes Vorbild die Normannen, die England eroberten. “Das Weltrad wird in seinem raschen Laufe nicht von Zwerg‑, sondern von Riesenhänden getrieben. In seinen gewaltigen Revolutionen zermalmt es die Schwachen, die Stärkeren bewältigen – leiten es.” Die Abschaffung der Todesstrafe im Norden ist “vollkommen richtig, ganz demokratisch; obwohl ich wieder der Notion bin, daß keine bürgerliche Gesellschaft in die Länge dabei bestehen könnte.” Nun ja.

Es folgt die ausführliche Beschreibung einer Kampagne im Unabhängigkeitskrieg, Einnahme und Verlust der Festungen von Goliad und Alamo, und eben die Schlacht vom Jacinto. Das ist einigermaßen detailliert beschrieben, aber solange ich nicht mehr von Kriegsführung verstehe, lese ich das nicht sehr konzentriert. Morse begegnet dabei mehrfach dem wilden Mann Bob, der sich in der Tat außerordentlich macht und schließlich seinen Frieden im Tod findet. (Es gibt wohl eine Hintergrundgeschichte um Bob und den Alkalden, der Erzähler merkt am Ende, “daß hier denn noch etwas mehr als gewöhnliche Sympathie – daß ein wichtiges Geheimnis im Spiele sei,” als der Alcalde gar so sehr um Bob trauert. “Geht, geht, überlaßt mich meinem Schmerze!” – Ein Verwandter? Wir erfahren sonst nichts.)

Die Zuhörer in der Kajüte sind größtenteils schwer beeindruckt. Man will aufbrechen, bis der irische Diener Phelim, eine arge Karikatur, sie zum Trinken der letzten Runde mahnt – das sei irische Tradition, sonst käme der Fluch von Kishogue über sie. Und zur Erklärung erzählt er die Geschichte Kishogues.

Der Fluch Kishogues

Aha, also doch kein Roman, sondern eine Art Novellensammlung, obwohl die erste Binnenerzählung die ganze erste Hälfte ausmacht. Die irische Geschichte ist sehr kurz und harmlos.

Das Interregnum

Danach beginnt der zweite Teil des Romans, Band 2 der Erstveröffentlichung, und das gleich mit einer interessanten Wendung: Einige der Südstaaten-Granden sind misstrauisch – vielleicht ist der Oberst Morse, Erzähler der ersten Hälfte, in Wirklichkeit ein Hochstapler? “Behaupte, er ist kein Gentleman. Kein Gentleman wird sich mit Leuten wie Bob abgeben.” Der Oberst Morse ist unter mysteriösen Umständen zu der Gesellschaft gestoßen; man tippt sogar auf Glücksspieler. Also doch ein Roman, nur dass die Haupthandlung doch innerhalb der Rahmenhandlung spielt?

Man erfährt etwas mehr über den abwesenden Gastgeber. »Hat seine zwei- bis dreimalhunderttausend Dollar in guten, soliden New Yorker und Ohioer Aktien. Groß das!« beteuerte er. »Sehr groß«, fiel andächtig der General ein. »Aber glaubt Ihr, daß er so viel?« Der Gastgeber ist deshalb nicht da, weil er seine anreisende Tochter erwartet. Es kommt zum Streit, als der ohnehin suspekte Morse bei der Erwähnung der Tochter aufseuzt, in den Südstaaten anscheinend ein kapitales Verbrechen. Ein verspäteter Gast in Form des Bankpräsidenten (und enger Freund des Gastgebers) kann den Streit mit etwas Druck schlichten, ein Duell verhindern, außerdem bestätigt er die Identität – der Fremde ist tatsächlich Oberst Morse, und zwar obendrein sein Neffe.

Der Bankpräsident muss sich von den Streithähnen vorwerfen lassen, dass er keinerlei Ahnung von Kampfhandlungen hat, und erzählt zum Beweis des Gegenteils eine Geschichte. Wir sind wieder bei den Binnenerzählungen!

Callao 1825

Eine Geschichte aus der Vergangenheit des Bankdirektors und von Kapitän Murky. Wir erfahren außerdem, dass es einen dunklen Fleck in der Karriere des Kapitäns gibt, dass er lange keine Stellung mehr finden konnte und Havanna meiden musste. Inzwischen ist das vorbei; wir sind bei der Belagerung der Stadt Callao in Peru (die letzte Bastion der Spanier in Südamerika) und es geht um ein konfisziertes Schiff samt Ladung. Der schweigsame Kapitän hat einen unerwarteten Freund im Oberbefehlshaber der belagernden Armee.

Havanna 1816

Zusammen mit der vorherigen ist diese Erzählung am typisch novellistischsten. Wir erfahren, was damals in Havanna vorgefallen ist – der Kapitän hat einem jungen Revolutionär, eben dem späteren Heerführer, und seiner Familie zur Flucht verholfen.

Die restlichen Kapitel

Das letzte Drittel des Romans enthält tatsächlich keine Binnenerzählung mehr. Der Onkel Bankdirektor nimmt den Neffen Morse ins Gebet, was der hier überhaupt mache. Und ja, Liebesgeschichte; er hat Alexandrine, die Tochter des Kapitän Murky, in Paris kennengelernt und ist ihr auf mehr oder weniger abenteuerlichen, jedenfalls unerhörten Wegen bis hierhin gefolgt. Das wird unterhaltsam beschrieben, aber einen Konflikt gibt es nicht mehr, seit man weiß, dass der Kapitän der Beziehung dann doch wohlwollend gegenübersteht – obwohl Morse als Texaner keineswegs ein angemessener Schwiegersohn ist. So etwas wie Spannung ist dann lediglich die klischeehafte Annäherung der beiden Liebenden aneinander. (Hm. Schon bei Münchhausen von Immermann, zwei Jahre zuvor erschienen, war es so, dass nach turbulenten ersten zwei Dritteln der Rest eine eher biedermeierische Liebesgeschichte ist. Zeittypisch?)

Ein wunderlieblicher Abend! Noch funkelte tief im Westen das Purpurrot der untergegangenen Sonne, das höher hinauf in das lichtere Karmoisin verschmelzend, zu beiden Seiten dunkelgrüne und goldgelbe und lichtblaue Delphine schwimmen ließ, während hoch oben die lichtgesprenkelten Wölkchen gleich zahllosen Mackerels sich in des Schöpfers unendlichem Luftmeere herumtrieben.

Einigermaßen preziös, das, und auch das hier:

Und jetzt stritten sie, wer mehr liebte, und er und wieder sie wollte mehr geliebt haben, und er wies ihr nach, wie er mehr geliebt, und sie wieder hörte ihn so entzückt an. »Mein Edward!« lispelte sie mit ihrer süßen Glockenstimme.

Zum Schluss besuchen sie die Unterkünfte der Sklaven und das wird als paradiesisch friedvoll beschrieben. Dazu unten mehr.

Sprache

Sprachlich ist das Buch interessant, weil es viele Anglizismen und Amerikanismen enthält; ob das üblich war und die Exotik erhöhen sollte, weiß ich nicht. Wir haben “Kuguar” für cougar, “Kallosität” für callousness, “Tantarums” für tantrums, “quer” für queer, und vieles mehr.

Immer wieder gibt es Konstruktionen, die nach question tag wie bei Asterix aussehen: “War aber ein glorioses Leben. – War es nicht?”

Beliebt bei verschiedenen Sprechern ist “kalkuliere” als Entsprechung von reckon (so wie: I suppose, I expect), etwa in: “ ‘Kalkuliere, kennen uns’, versetzte Johnny” oder “Kalkuliere, ist doch weiter nichts als einer Eurer gewöhnlichen Tantarums.” Typisch dabei auch das wildwestliche Weglassen von pronominalen Subjekten.

“Welschkorn” für Mais finde ich besonders apart. Zum Frühstück gibt es “Tee, Butter, Welschkornbrot und […] Steaks.” Außerdem gibt es einmal in einer Blockhütte “in Madeira präservierte Bärentatzen”, das hätte mich interessiert.

Nationalchauvinismus, Rassismus und Sklaverei

Der zweite Titelbestandteil heißt “Nationale Charakteristiken”, das ist also Programm. Den Nordstaaten- und Südstaaten-Amerikaner lässt man durchaus die eine oder andere negative Eigenschaft, aber insgesamt sind sie doch so vollkommen positiv dargestellt, dass ich mir da gar nichts dazu notiert habe. Die Engländer, Iren, Spanier, Südamerikaner, Franzosen dagegen kommen nicht gut weg; hier ein paar gesammelte Stellen:

Bei keiner Gelegenheit habe ich diesen – nicht britisch bullenbeißerisch rauflustigen Stieresmut – nein, den stets gefaßten, entschlossenen, ruhig festen, unerschütterlichen amerikanischen Mannesmut so anschaulich, so deutlich, so handgreiflich kennen und schätzen gelernt.

Übrigens ist der Mexikaner gleich dem Spanier hinter Wällen und Mauern ein weit bedeutenderer Gegner als im offenen Felde

Der spanisch zähe Charakter, in den dreihundert Jahren so tief eingewurzelt, gibt nicht leicht auf

Der Amerikaner taugt in Festungen nicht viel.

Bei meiner Seele! ein Meisterstück irischer Schilderung!« brach endlich der oberste Richter aus. »Nicht bald habe ich etwas gehört, das das wild Launige, desperat Humoröse des irischen Nationalcharakters, eine lustige Verzweiflung inmitten des härtesten Druckes, der Todesqual, so springfedrig drollig, tragikomisch gezeichnet hätte.

Sagt, was ihr wollt, im Charakter des Briten ist ein Zug von gefühlloser Härte, der noch immer an den norwegischen und normannischen Seeräuber mahnt

Euer Brite ist nie widerwärtiger, als wenn er freundlich, zutraulich wird; die Selbstsucht, der krasseste Eigennutz grinst dann so ekelhaft aus seinen harten, brutalen Roastbeefzügen heraus!

Aber so sind sie nun schon einmal, diese Südamerikaner, im Kriege sowie im Frieden heißblütig, stürmisch, der verzweifeltsten, der unerhörtesten Kämpfe, Anstrengungen fähig! In ewigen Extremen überfliegen sie euch die Anden, ertragen Hunger und Durst, Hitze und Kälte, überwinden Gefahren, gegen die Napoleons Zug nach Italien bloßes Kinderspiel; überraschen den Feind, besiegen, vernichten ihn; aber legen sich dann, statt ihren Sieg zu verfolgen, ruhig zu ihrer Siesta und lassen sich vom ersten besten Nachzüglerhaufen wieder die Früchte ihres Sieges entreißen! Ein wahres Glück für sie, daß ihre Feinde, die Spanier, mit denselben liebenswürdigen Schwachheiten gesegnet waren.

Aber richtig schlimm wird des dann mit den Schwarzen. Der Haussklave kann kein korrektes Englisch und ist so dumm, dass er die Anweisung nicht verstanden hat und durcheinander wiederholt: “Er nicht so schlechte Zigarren schicken, er kastanienbraune Hexe sein. Massa mit Johnny und den Nachbarn reden. Sie mitbringen, Johnny, die Nachbarn.”

Die Kinder in den Sklavenunterkünften werden als putzig, aber nicht viel besser als unvernünftige Tiere dargestellt. Die älteren Sklaven blicken zur Herrschaft auf, alles ist patriarchalisch und friedlich. “Das Negerdorf war ein anderer reizender Zug in diesem südlichen Gemälde, der Hintergrund gleichsam, der aber erst dem Vordergrunde seine eigentümlich patriarchalische Betonung verlieh.” Und: “Man hat im Norden keinen Begriff von der Liebe und Zärtlichkeit, mit der unsere Schwarzen an ihren Herren und Frauen, diese wieder an ihren Angehörigen hängen.” Dieses Bild der Sklaverei ist bekannt; dass es absurd falsch ist, ist hoffentlich allen klar. Ich habe Beloved von Toni Morrison nur mit Mühe lesen können.

Wissen Sie, Miß Murky«, fiel er, der Unterhaltung zart eine andere Wendung gebend, ein, »was ich jetzt wünschte?« »Was?« »Daß einige unserer abolitionistischen französischen Freunde da wären, dieses herrliche, patriarchalische Gemälde zu sehen.« »Warum?« »Sie würden von ihren antisklavischen, ich möchte sagen, antisozialen Ideen zurückkommen. Wie oft wurde mir nicht die Sklaverei, die empörende Behandlung unserer Sklaven vorgeworfen!« »Ich habe nie einen solchen Vorwurf gehört«, versetzte wieder ruhig sie, »aber wenn ich auch hätte, er würde mich kaum bewogen haben, mir über diesen Punkt den Kopf zu zerbrechen. Wir haben sie einmal, diese Sklaverei, und selbst wenn sie ein Übel wäre, würde ich eher zu versöhnen, zu vermitteln, als dagegen zu kämpfen suchen.«

Verboten wurde die Sklaverei in Haiti 1804, im englischen Empire 1807 (gegen Ersatzleistungen, und der Sklavenschmuggel blieb noch lange profitabel). Auch heute gibt es noch Sklaverei, und in der Antike gab es das auch; die rassistische Komponente, um die Sklaverei zu legitimieren, ist vielleicht spezifisch für die amerikanische Sklaverei.


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